Was haben ein herbstlicher Waldspaziergang und der Beutelsbacher Konsens miteinander zu tun?

Vielleicht ist es die Ruhe und Harmonie, die der Wald ausstrahlt, das Rascheln der Blätter, die den Boden bedecken, das warme Abendlicht – trotz des ja auch stürmischen Akzents, dem man dem Herbst sonst zuschreibt.

Vielleicht auch, weil meine Frau Schwäbin und Politikwissenschaftlerin ist und ihr daher der Beutelsbacher Konsens schon lange vertraut ist.

Jedenfalls: Bevor wir den Wald wieder verließen, dachte ich: den Beutelsbacher Konsens wiederzuentdecken könnte angesichts von Filterblasen und abgeschotteten Diskussionszirkeln für unsere gesellschaftliche Kultur eine wichtige Leitlinie sein.

Warum?

Wir erinnerten uns an die frühen 70er Jahre. Dort standen sich links-progessive und rechts-konservative politische Haltungen unversöhnlich gegenüber. Als Schülerinnen und Schüler konnten wir diese Polarisierungen immer wieder erleben. Man diskutierte nicht miteinander, man verachtete sich! In der Schule war das besonders krass bei gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Das ging bei uns bis in die Schülersprecherwahlen, ich erinnere mich gut an heftige Auseinandersetzungen, ohne dass konkrete Themen bearbeitet wurden. Immer ging es um Personen, Haltungen, um Identität.

In der Weinstadt Beutelsbach im Remstal nahe Stuttgart wurde der wichtige Konsens formuliert.

Und nun kommen die Schwaben ins Spiel. Obwohl damals dieser Streit zwischen „Links“ und „Rechts“ tiefe Spaltungen und Verwerfungen produzierte, riss das Gespräch unter den Fachleuten für politische Bildung nicht ab. Und es war ein NRWler, der damals in Schwaben lebte, Hans-Georg Wehling, der den streitenden Parteien Gemeinsamkeiten abtrotzte und sie im Beutelsbacher Konsens formulierte.

Denn sie hatten ein Ziel: Alle Streitenden wollten das politische Gemeinwesen voranbringen und wollten Menschen eine gute politische Bildung geben und sie fit machen, an der zukünftigen Entwicklung teilzunehmen.

Worauf einigte man sich:

  1. Überwältigungsverbot.
    Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination.
  2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
    Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.
  3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist.

Überwältigungsverbot, Kontroverses zur Diskussion stellen und Analysefähigkeiten stärken – was würde das für die verfahrenen Diskussionen heute bedeuten? Wo man andere Meinungen nicht mehr wahrnimmt, Analysen vernachlässigt und Manipulation und Indoktrination das Mittel der Wahl zu sein scheinen?

Könnten wir als Kirche nicht ein Setting bereitstellen, in dem nach diesen Prinzipien an einer guten Zukunft gearbeitet werden kann? Einen Streit organisieren, wie er im Herbst 1976 in dem idyllischen Weinort Beutelsbach mehrtägig ausgetragen wurde? Ohne von vornherein bestimmte Positionen auszugrenzen? Im Blick auf ein solches Ziel würden auch populistische Meinungen ihre Sogwirkung verlieren.

Die Perspektive auf Gottes Zukunft könnte doch Christinnen und Christen zur aktiven Mitgestaltung motivieren, hängt doch unsere Identität nicht vom Ergebnis gesellschaftlicher Gestaltungsprozesse ab.

Vielleicht war es – neben unserer schwäbisch-westfälischen Verbundenheit – auch der herbstliche Blätterwald als Bild von Endlichkeit, das unsere Gespräche beim Waldspaziergang in diese Richtung lenkte.