Der Verzicht auf unsere Gottesdienste ist kein Zeichen mangelnden Glaubens. Gebete sind keine mirakulösen Handlungen zum Schutz vor Ansteckungen und das Abendmahl keine Schluckimpfung gegen das Virus.

Heute landete eine Mail in meinem Postfach mit dem ungewollt komischen Hinweis, dass eine geplante „Wunder Konferenz“ im Mai leider abgesagt werden muss. Offensichtlich hat man doch etwas Sorge, dass das mit den „Wundern“ schiefgehen könnte – obwohl man sonst das Gegenteil vollmundig behauptete. Umgekehrt finde ich auch in Atheisten-Foren die schadenfrohe Behauptung offensichtlich mangelnden Glaubens.

Willkommen im Mittelalter. Denn dort gab es das, was hier vorausgesetzt wird: die Einheit des Wissens. Das war schön hierarchisch gegliedert, man begann mit den logisch-mathematischen und philosophischen Studien, bevor man zu Rechtsprechung, Jura und – natürlich! – Theologie gelangte. Empirisches Wissen, Erfahrungswissen gehörte eher in diese Vorstufen. Wollte man etwas über die Welt erfahren, konnte man das alles in den naturkundlichen Schriften des Aristoteles nachlesen.

Aber nicht so sehr dieses Fehlen von Naturbeobachtungen war der größte Unterschied zu heute, sondern die Vorstellung, dass sich alles menschliche Wissen zu einer Einheit zusammenfügen lassen würde.

Das ist nun in der Neuzeit tatsächlich anders. Statt dieser Einheit des Wissens haben wir einen vielfältigen, differenzierten Zugang zu den Phänomenen der Welt. Da gibt es – natürlich – die neu entstandenen Naturwissenschaften: Chemie, Physik, Biologie. Da gibt es Literatur- und Sprachwissenschaften. Künstlerische Zugänge zur Welt. Religiös-theologische. Philosophische.

Statt eines Gesamtwissens haben wir das Expertenwissen. Der „Universalgelehrte“ früherer Zeiten wird durch den Spezialisten in seinem Bereich, in seiner Zugangsweise zur Welt abgelöst.

Mir erscheint das gerade gegenwärtig so deutlich zum Tragen zu kommen wie selten zuvor. In der Corona-Krise sind es nur noch die Verschwörungsglaubenden, die eine umfassende Sicht für sich in Anspruch nehmen. Alle anderen wissen um ihren begrenzten Weltzugang. Und sind genau deshalb wichtige Experten. Die Virologen. Die Sozialpsychologen. Die Ökonomen. Die Soziologen. Keine dieser Perspektiven kann für sich in Anspruch nehmen, unmittelbare gesellschaftspolitische Konzepte oder Handlungsanweisungen vorzunehmen. Die Virologen beraten die Politikerinnen. Die Soziologinnen und die Ökonomen prognostizieren aus ihrer Sicht. Die Psychologinnen erläutern modellhaft menschliches Verhalten. Sie alle werden gebraucht, damit politische Entscheidungen gefällt werden können. Aber kein Bereich weiß alles.

Und die Kirchen?

Einerseits habe ich den Eindruck, dass sie medial selten so präsent gewesen sind wie gerade jetzt. Und das liegt nicht nur an Ostern. Der verantwortliche Umgang mit dem Versammlungsverbot, dass die Kirchen ja in ihrem Kern trifft, und die vielen kreativen neuen Projekte, digital wie analog, wurden auch in den Pressemedien sehr deutlich zur Kenntnis genommen.

Aber im Blick auf die inhaltliche Relevanz von Kirchen und Theologien ist noch viel Luft nach oben. Im neuzeitlichen Bild der unterschiedlichen Weltzugänge gesprochen: Welches ist denn der spezifisch kirchlich-theologische Zugang? Was ist das „Alleinstellungsmerkmal“?

Vielleicht ist es das Themenfeld der Verantwortung.

Wir sehen im Zusammenspiel unterschiedlicher Weltzugänge, dass die Behauptung eines einzigen politischen Königswegs nicht mehr möglich ist (und auch früher eher eine – ideologisch eingefärbte – Behauptung darstellte). Welche Schulen für welche Klassen wann geöffnet werden sollen, ist eben keine rein virologisch oder rein verhaltenspsychologisch oder rein bildungstheroretisch zu entscheidende Frage. Eine Entscheidung muss abgewogen werden und jedes Urteil hat Licht- und Schattenseiten.

Gerade an den brisanten politischen Entscheidungen wird doch deutlich: Wir können uns der Verantwortung für unser Handeln nicht entziehen. Noch weniger als man bislang behauptet hat, kann man sich auf eine „Alternativlosigkeit“ zurückziehen. Der Verantwortung kann sich niemand, kein Bereich entziehen. Das führt zu einer hohen Belastung. Entscheidungsträger bekennen, nur noch schlecht zu schlafen. Und manche, wie der hessische Minister Schäfer, konnten die Verantwortung nicht mehr ertragen.

Verantwortung kann man nicht abgeben. Und mit jeder Entscheidung produziert man auch Schuld.

Verantwortung kann man nicht abgeben. Schuld aber schon! Das ist ein zentrales Thema des christlichen Glaubens: der Umgang mit Schuld, die aus der Verantwortlichkeit des Menschen entsteht. Die zurückliegenden Feiertage erinnern uns daran, dass Gott diese Schuld auf sich lädt und uns von ihr befreien will.

Und dazu gehört auch das Gebet. Auch wenn wir nicht mehr im Mittelalter leben, suchen wir doch nach einer solchen einheitlichen Weltsicht und Weltdeutung. Und können nur schlecht damit umgehen, dass wir nicht mehr dahin gelangen. Der atheistische Naturalismus ist ein solcher – vergeblicher – Versuch. Das christliche Gebet gibt diesen Wunsch ab an den, der für diese Einheit steht. Kein Wunder, dass in der Karwoche der Aufruf zu einem gemeinsamen Gebet in Deutschland so schnell und so viel Zuspruch erhielt. Ein halbe Millionen Klicks wurden gezählt, die geschätzte Zahl der Teilnehmenden dürfte etwa doppelt so hoch sein. Auch wenn der ein oder andere Unterstützer dieser Aktion wie auch die Kommunikation im Vorfeld einige Bauchschmerzen verursachte – seltsam schon, dass es in den Medien praktisch gar nicht auftauchte.

Auch in dem kirchlichen Medien: Fehlanzeige.

Ich sagte ja schon: da ist noch Luft nach oben.