Wo ist die rote Linie?
Letzte Woche hörte ich unterwegs im Autoradio die Meldung, dass keine „Repräsentanten der AfD“ auf den evangelischen Kirchentag eingeladen würden.
Hm, echt jetzt? Ich kann ja verstehen: Mit denen will man nichts zu tun haben. Aber ist das die Lösung? Gab es in der Vergangenheit nicht auch andere Konzepte?
Zu Hause angekommen, schnappte ich mir die „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“, in der das ganze Interview mit dem Kirchentagspräsidenten Hans Leyendecker abgedruckt war.
Er würde, so war dort zu lesen, gerne „mehr konservative Stimmen hören“, also das Spektrum der Meinungen erweitern, aber die AfD sei doch weit nach rechts gerückt und man müsse ihr „mehr entgegensetzen als wir bisher getan haben“, Nur dann könnten „alle, die sich für respektvolle Toleranz und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft einsetzen“ gestärkt werden.
Und das heißt: die AfD bleibt draußen. Das, was in Chemnitz und anderswo geschehen sei, passe nicht zur offenen Haltung des Kirchentags. Leyendecker „möchte nicht Gauland zuhören“ und in den Hetzreden aus dem AfD-Umfeld könne er „keine Bereicherung der politischen Debatten entdecken“.
Ja, da hat er Recht, der Kirchentagspräsident.
Und doch ärgert mich diese Entscheidung und frustriert mich auch! Ich erinnere mich an den Berliner Kirchentag, wo „Streitzeit“ angesagt war und das Zentrum Weltanschauung die Vorsitzende der „Christen in der AfD“ zum Streitgespräch geladen hatte.
Auch das war seinerzeit umstritten. Aber der Streitgegner Bischof Dröge demontierte ruhig und klug die Argumente der AfD-Vertreterin. Und wenn man dann noch weiß, dass sie nur wenige Monate später ihren Austritt aus der AfD bekannt gab, weil ihrer Meinung nach christliche Inhalte dort keinen Platz mehr hatten, war das eine späte Bestätigung des damaligen Diskussionsverlaufs.
Darauf will man also nächstes Jahr in Dortmund verzichten.
Ich persönlich als jemand, der 2019 im Zentrum Weltanschauung mitarbeiten wird, finde diese Entscheidung falsch und geradezu fatal! Sicher, es gibt keinen Königsweg im Umgang mit dieser sich zunehmend radikalisierenden Partei. Aber einige Dinge möchte ich zu bedenken geben:
Zur Diskussion auf den Kirchentag eingeladen zu werden bedeutet ja keinen evangelischen „Ritterschlag“. Die Öffentlichkeit, die der Kirchentag herstellt, stellt er ja zugleich auch zur Diskussion. Und jetzt zu befürchten, dass „die populistische Versuchung durchaus auch in unseren Reihen Wirkung entfalten“ könne, halte ich für ein Armutszeugnis gegenüber den oft sehr engagiert und differenziert diskutierenden Kirchentagsbesucherinnen und –besuchern.
Natürlich muss man fragen: Wo ist die rote Linie? Wer sich offen rassistisch äußert oder Hetzreden gegen andere führt, bleibt draußen – ganz klar!
Oder nicht?
Gabriels Rede vom „Pack“ oder Schulz´ „Misthaufen“ müssten dann ja auch Konsequenzen haben. Gut, vielleicht kann man das noch als Ausrutscher, als Ausnahme werten, anders als bei Höcke oder Poggenburg. Aber die rote Linie zu ziehen zwischen AfD-Repräsentanten, die draußen bleiben müssen, und –Sympathisanten, die eingeladen sind, halte ich für nur schwer nachvollziehbar. Ein AfD-Wähler muss doch den Eindruck gewinnen: Meine Stimme ist weniger oder gar nichts wert.
Wie wäre es, wenn man wieder Sachbeiträge als Kriterium nehmen würde. Nein, ich möchte Gauland auch nicht hören – aber warum auch? Hat er doch im ZDF-Sommerinterview deutlich gemacht, dass ihn die Fragen, die die Menschen bewegen, nicht wirklich interessieren und seine Partei dazu auch nichts anzubieten habe. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer haben das erkannt. Also: Gauland kommt nicht aufs Podium, weil er nichts Substanzielles zu sagen hat. Dann ergibt sich von ganz allein, dass die AfD-Repräsentanten nicht auf den Podien erscheinen. Die AfD könnte nicht so leicht in ihre typische Opferrolle schlüpfen und der Kirchentag deutlich machen, dass es nicht um Ausgrenzung, sondern um Sachthemen und Positionen gehe.
„Deutschland spricht“
Kurz vor der Kirchentagsentscheidung gab es eine Aktion der „Zeit“, die zahlreiche Streitgespräche initiiert hat: „Deutschland spricht“. Gegen die Spaltung und Sprachlosigkeit in unserer Gesellschaft. Ein Reporter beschreibt dabei einen spannenden Selbstversuch: Er trifft sich u.a. mit einem bekennenden Nationalsozialisten und mit einem Anhänger von Verschwörungstheorien. Mit letzterem kam kein Gespräch zustande, wohl aber mit dem Nazi – erstaunlich, auch für den Autor!
Mit der AfD nicht zu sprechen – ist das „Kante zeigen“? Oder ein Ausdruck der Kompromisslosigkeit, mit der zunehmend bei uns gestritten wird? Psychologisch zeigt sich: Aus der Distanz hasst es sich leichter. Je näher uns jemand kommt, desto schwerer fällt es uns, ihn zu hassen. Schauen wir jemandem in die Augen, reagieren wir empathischer und es wird weniger Cortisol ausgeschüttet, ein Indikator für Stress.
Ein Streit kann dann konstruktiv verlaufen, wenn es möglich ist, sich in die Position des Gegners hineinzuversetzen. Dann kann einem auch bewusst werden, dass wir aus verschiedenen Identitäten bestehen, kognitiv, emotional, lebensweltlich. Manchmal sind diese Identitäten kongruent: CSU-Wähler, katholisch, Schützenfest und Bierzelt, BMW-Fahrer – das passt zusammen. Und dann gibt es andere, nehmen wir eine Muslima, die das Haus adventlich schmückt, Seehofer mag und für die Homo-Ehe ist – solche Identitäten sind komplex.
Empirischen Studien zeigten: je komplexer die Identitäten, desto toleranter und besser streitet man. Wer selbst nicht in Schubladen passt, steckt auch andere nicht so schnell hinein.
Und noch etwas beobachtet man: Je stärker die Gruppenidentität, desto stärker entscheidet man sich für Loyalität, manchmal sogar auf Kosten der Wahrheit!
Was wäre also zu tun? Man müsste solche problematischen Gruppenidentitäten schwächen. Man müsste die Widersprüche des Lebens aufzeigen und Komplexität erhöhen bzw. die in Wirklichkeit schon höhere Komplexität ins Bewusstsein bringen.
Meine Tochter arbeitet gerade mit jugendlichen Straftätern aus dem rechten Milieu. Und erzählt, wie im Gespräch sich plötzlich für diese Menschen eine neue Sichtweise auftut.
Aber dazu müsste man miteinander reden.
Kirchentag & Welt
Leider finden sich diese klugen Überlegungen im Hauptteil der Zeitung und nicht bei „Christ & Welt“ und dem Kirchentag.
Schade.
Denn ich finde: Das alles gilt auch für den Umgang mit der AfD. Meine roten Linien habe ich benannt: Hetzreden als Grundcharakteristikum (und nicht als Ausfälle) und Rassismus. Alles andere kann zum Streitgegenstand werden. Man kann nur dann gewinnen, wenn man seinen Gegner kennt – dazu muss man mit ihm reden.
Gerade beim Kirchentag! Mit wem sollte man denn reden, um Konflikte zu lösen?
Wer sonst, wenn nicht die Kirchen könnte denn den Kitt bereitstellen, um verfeindete Positionen zusammenzubringen?
Der Kirchentag im nächsten Jahr hat diese Chance leichtfertig vertan. Ich halte es nach wie vor mit der Kirchentagspräsidentin des Berliner Treffens, Christina aus der Au: „Es ist immer besser miteinander zu sprechen als übereinander.“
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