Worum es ging

Eigentlich wäre ich seit gestern mit meinen Kolleginnen und Kollegen auf einer großangelegten Fachtagung in Würzburg. Es sollte um ein echtes Streitthema gehen: „Rituelle Gewalt“. Im großen Stil, so wird nämlich behauptet, werden besonders Kinder und Frauen rituell gefoltert und getötet. Dahinter würden große Netzwerke satanistischer Gruppen stehen, die unsere Gesellschaft einschließlich polizeilicher und juristischer Behörden unterwandert hätten. Deshalb wüsste man nichts von ihnen. Die Täter führten nach außen hin ein unauffälliges und respektables Leben. Die Erinnerungen der Opfer würden mit Mind-Control-Programmen manipuliert und verdrängt. Sie könnten allerdings durch Traumtherapien wieder bewusst gemacht werden.

Verbreitung

Das mag absurd klingen, wie eine Verschwörungstheorie. Im angelsächsischen Raum ist diese These unter dem Stichwort „Satanic Panic“ ausführlich untersucht und sind ihre kompliziert anmutenden Annahmen dekonstruiert worden. Die Gedächtnisforschung hat längst gezeigt, wie einfach es ist, falsche Erinnerungen zu erzeugen und zu suggerieren. Und bei den mir bekannten Satanisten-Kreisen habe ich von Ritueller Gewalt nichts gehört.

Trotzdem wird auch bei uns durch Therapie-Netzwerke diese These immer wieder verbreitet. Teilweise mit Erfolg: So ist im letzten Bilanzbericht der vom Bundeskabinett beauftragten „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ dem angeblichen „Sexuellen Kindesmissbrauchs in organisierten rituellen Strukturen“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Und ein vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördertes Video warnt vor großen Netzwerken organisierter Ritueller Gewalt.

Eine Verschwörungstheorie?

Zweifellos. In klassischer Form. Natürlich nicht der Kindesmissbrauch als solcher! Den gibt es. Und es gibt auch vernetzte Tätergruppen. Das muss immer wieder betont werden, wird doch Kritikern sofort eine „Täterperspektive“ vorgeworfen.

Aber nicht in der Form, wie es hier behauptet wird!

Die Rituelle-Gewalt-These erzeugt neue Opfer. Wenn sich Väter, Ehepaare oder sogar Babysitter vor Gericht wiederfanden, in den USA oft nach langer Zeit erst freigesprochen wurden. Wenn Patientinnen in der Traumtherapie „Erinnerungen“ angeblich entdecken und Familien zerbrechen. Statt vernünftig und begründet wirkliche Täter aufzuspüren, werden staatliche Stellen auf die Fährte einer abseitigen Verschwörungstheorie gelockt und – wie in den genannten Video – gegen alle Vernunft dazu aufgefordert: „Seien Sie bereit, Dinge zu glauben, die jenseits ihrer eigenen Vorstellungskraft liegen.“

Ja, natürlich bin ich als Christ überzeugt, dass es jenseits der Grenzen meiner Vorstellungskraft noch etwas gibt. Aber deshalb glaube ich doch nicht Beliebiges! Glauben und vernünftiges Denken stehen nicht im Widerspruch. Kritisches Prüfen gehört dazu.

In Würzburg sollte das Thema interdisziplinär aus psychologischer, kriminalpolizeilicher und weltanschaulicher Sicht beleuchtet werden. Die Tagung wird hoffentlich nur vertagt. Das Thema bleibt virulent. Und auch in der Weltanschauungsarbeit bleiben wir dran!